Die Fahrt durch Angola dauerte fast drei Tage. Dylan und Yasmin waren etwas in Eile, denn sie mussten vor dem 15. Dezember in Kapstadt sein: Dylan‘s Schwester wollte heiraten. Ich stand vor der Wahl: entweder bleibe ich länger in Angola und schaue mir das Land genauer an oder ich fahre mit meinen neuen Freunden direkt nach Namibia weiter. Ich genoss die Fahrt mit den beiden so sehr, dass Angola den Kürzeren ziehen musste. Irgendwie fühlte ich mich auch etwas verantwortlich für die beiden und wollte sie nicht alleine weiterziehen lassen.
Die Rollenverteilung in unserem Team funktionierte auch ganz gut: Dylan war unser Mechaniker, Yasmin verhandelte die Preise überall und organisierte Essen aus dem Nichts. Ich führte unsere kleine Gruppe unterwegs als Navigator an. Eine äußerst verantwortungsvolle Aufgabe, die ein hohes Maß an Sachkenntnis erfordert: Ich gab die GPS-Koordinaten ins Navi ein und folgte den Anweisungen. Direkt hinter mir folgte Yasmin und am Ende fuhr Dylan, auf den dann niemand mehr aufpasste. So fuhren wir eines Tages bis in die Nacht hinein. Eine kleine Tankstellenpause ergab, dass sich das Zelt an Dylan‘s Bike gelöst hatte und ins Hinterrad reingeraten war. Er musste so kilometerweit gefahren sein, denn von seinem Zelt blieben am Ende nur noch Fetzen übrig. Dylan merkte nichts davon. Er meinte nur eine eigenartige Geruchskulisse wahrgenommen zu haben. Er habe sich dabei nichts gedacht. Für die gemeinsame Weiterreise erledigte sich somit die Camping-Option. Dylan strahle und grinste breit, als hätte er gerade einen Preis in der Kategorie: „Die lustigste Art und Weise, das eigene Zelt während einer Afrika-Reise zu zerstören“ gewonnen.
Zwei Tage später grinste Dylan erneut: 80km vor Windhoek riss ihm die Kette bei voller Fahrt. Ich merkte das nicht sofort. Da ich nicht konstant in den Rückspiegel schaute, merkte ich erst ein Weilchen später, dass mir niemand mehr folgte. Yasmin hörte den Krach hinter ihr und stoppte gleich, während ich nichts davon mitbekam. So drehte ich um und fand die beiden vor, als sie die Kettenteile von der Straße sammelten. Beide bestens gelaunt, da musste ich selbst mitlachen.
Die Kette riss, nicht weil sie schlecht montiert war, sondern weil sie nicht so richtig für das Motorradmodel passte und weil ihre Qualität viel zu wünschen übrig ließ. Zum Glück behielt Dylan die alte Kette, die er dann zurückmontierte. Später erfuhr ich, dass auch Yasmin‘s neue Kette kurz vor Kapstadt riss. Ich war nicht dabei, ich stellte mir aber bildlich vor, wie sie erneut die Kettenteile von der Straße sammelten und dabei Witze rissen. So viel Humor, Lebensfreude und Gelassenheit muss man echt haben!
Irgendwann erreichten wir auch die namibische Hauptstadt, Windhoek. Auf uns sollte Ray warten, ein Namibier deutscher Abstammung, der eigentlich Raymond hieß. Dylan kontaktierte ihn, weil seine Schwester eine Freundin von ihm kannte. So ein Arrangement klingt kompliziert, funktioniert aber bestens: Dylan und Yasmin sollten sein Gästezimmer, ich seine Couch im Wohnzimmer bekommen. Als wir eintrafen, war Ray gerade mit Freunden unterwegs und bat uns ein paar Stunden zu warten. Es war kein Problem. Wir suchten uns auf Google ein lokales Restaurant, wo wir was essen konnten und fuhren hin. Wir bestellten unsere Hamburger und Getränke und unterhielten uns über das bereits Erlebte als wir merkten, dass uns Leute von einem Nachbartisch anstarrten. Ich dachte, ok wieder mal jemand, der neugierig auf uns ist und wissen will, wo wir herkommen. In unseren schmutzigen Biker-Klammotten sahen wir aus, als würde es sich lohnen, uns ein paar Fragen zu stellen. Plötzlich stand ein Kerl auf und fragte uns: »Ist einer von Euch vielleicht Dylan?« Wir schauten erstaunt zurück. »Das bin ich«, sagte Dylan. »Cool, das dachte ich schon die ganze Zeit. Ich bin nämlich Ray«. Wir lachten auf und schoben dann für den Rest des Abends unsere Tische zusammen.
Wir verbrachten ein paar schöne Tage bei Ray. Windhoek erwies sich als moderne und saubere Stadt. Dylan bekam auch ein neues, passendes Ketten-Set für seine BMW und Yasmin kaufte sich einen neuen Helm. Ich wollte den lokalen BMW-Dealer ebenfalls besuchen, um mein Motorrad endlich mal fachmännisch checken zu lassen. Dieses Mal funktionierte alles einwandfrei. Ich wurde sehr nett empfangen und in eine exzellent ausgestattete Werkstatt eingeladen. Meine Maschine wurde an den Rechner angeschlossen und alles war top! Der Mechaniker sprach Deutsch und es sah danach aus, als hätte er sein Fach richtig im Griff. Am Ende musste ich nichts bezahlen und der Manager wünschte mir eine gute Weiterfahrt! So stelle ich mir einen guten Service vor! Lediglich eine Sache störte das perfekte Gesamtbild und irritierte mich sehr: der Mechaniker hatte ein großes Hakenkreuz auf der Rückseite seines Handys! Und es war eindeutig als solches zu erkennen. Ein hinduistisches Symbol des Glücks war das definitiv nicht. Wochen später, als ich mich mit einem Biker in Südafrika darüber unterhielt, meinte er auch, davon gehört zu haben. Dieser Mechaniker scheint in der Biker-Szene bekannt zu sein, angeblich ist er noch mit Nazi-Symbolen tätowiert. Das erstaunte mich sehr! Ein lizensierter BMW-Dealer lässt bei den Mitarbeitern Nazi-Symbole zu? Weiß er das überhaupt?
Ray und sein Mitbewohner LeRoux erzählten uns viel über Namibia. Ich bekam große Lust, etwas länger im Land zu bleiben. Dylan und Yasmin wollten die Hochzeit in Kapstadt nicht verpassen und mussten bald weiterfahren. Ich hatte noch Zeit und entschied mich, mehr von Namibia sehen zu wollen. Ray meinte, Namibia ist „Africa for dummies“: man bekommt hier alles, was man braucht, es ist leicht zu reisen, die Infrastruktur ist gut und das Benzin billig. Die Lebensmittel sind nicht teuer und überall gibt es Geschäfte, wo man alles kaufen kann. Außerdem gibt es schöne Nationalparks und tolle Landschaften. Im Allgemeinen, ist es wie in Europa. Mir war klar, dass ich mich selbst davon überzeugen musste!
Der Abschied von meinen Biker-Freunden fiel mir schwer. Wir haben aber entschieden, uns erneut in Kapstadt zu treffen. Selbst die Technik am Abreisetag streikte. Zuerst wollte das Moped von Dylan nicht starten. Nach der Reparatur am Vortag hatte er vergessen, den Schlüssel aus der Zündung zu ziehen – sie war die ganze Zeit an. Wir überbrückten sein Bike und starteten es erneut. Es funktionierte! Abfahrtbereit stellten wir jedoch fest: jetzt streikte das Bike von Yasmin. Also, gleiche Geschichte von vorne: das ganze Gepäck wieder abnehmen und die Batteriebekleidung erneut abbauen. Irgendwann konnte ich nicht mehr warten: ich hatte einen Termin beim BMW-Service. Ich dachte nur, dass wenn sie heute nicht abfahren, komme ich auch zurück. Es ging aber doch. Ich bekam die Nachricht: »Beide Bikes laufen, wir sind unterwegs«.
Mein Plan für Namibia war nicht kompliziert: ich wollte den Skeleton Coast National Park besuchen, und später noch zwei Städte besichtigen: Swakopmund und Lüderitz. Ich hatte nicht endlos viel Zeit. Blöderweise gab ich bei Enreise an, dass ich zwei Wochen in Namibia bleiben werde. Und die habe ich auch bekommen: keinen Tag länger. So hatte ich nur noch rund eine Woche Zeit, nachdem ich bereits mehrere Tage in Windhoek verbrachte.
Ich freute mich auf den Nationalpark. Da ich den Etosha-Park nicht bereisen konnte – zum einen, weil ich mich beeilen musste und zum anderen, weil der Park für Motorräder angeblich gesperrt war -, fuhr ich in den Nordwesten des Landes. Die von mir etwas gefürchteten Schotterwege erwiesen sich als befahrbar. Unterwegs zum Eingangsgate fuhr ich an einem Himba-Dorf vorbei. Ich hielt kurz und wurde gleich eingeladen, mir das Dorf anzuschauen. Ich durfte fotografieren und Tumbee erzählte mir die Geschichte vom Himba-Volk, führte mich an den Hütten vorbei und ermöglichte mir die Teilnahme an einer interessanten Zeremonie. Tambee fragte mich, ob ich sehen möchte, wie sich die Himba-Frauen duschen. Ich blieb stehen: »Wie bitte?«, fragte ich verunsichert. Ich dachte noch nach, was wäre, wenn man so eine Frage in Europa stellen würde: »Du Martin, möchtest Du sehen, wie sich die Frauen in unserem Dorf duschen?«. Selbst in der fortschrittlichsten Berliner Subkultur-Gegend hätte eine solche Frage Erstaunen hervorgerufen, außer man hätte sich bereits von einem Swingerclub-Besuch gekannt. Da ich jedoch von Natur aus auf fremde Kulturen neugierig bin, willigte ich ein. »Die nackten Brüste habe ich bereits gesehen, die Frauen laufen ja so rum«, dachte ich noch.
Am Ende erwartete mich keine Erotik-Show sondern eine traditionelle Himba-Zeremonie. Wir gingen in die „Duschkabine“ – dort wartete bereits die Dorfprinzessin Ngajona Tjiurua aus uns. Sie zündete ein paar Räucherstäbchen an und führte sich das rauchende „Parfüm“ unter den Achseln durch. Nach einer Minute war die Prinzessin „geduscht“. Da Wasser ein sehr kostbares Gut für die Himba ist, verschwenden sie es nicht zum Waschen«, erklärte Tumbee. Er erzählte mir noch, dass es gerade eine sehr schwere Zeit für die Himba sei, weil alle Tiere durch die Dürre versterben und die einzige Einnahmequelle die Touristen seien. Sie verkaufen ihnen den selbsthergestellten Schmuck und tanzen ab und zu traditionelle Tänze vor. Tumbee sprach gutes Englisch, da er als Einziger in Windhoek studierte. Er erzählte mir noch eine Trivialität: die Himba schlagen sich die unteren vier Zähne aus, damit sie ihre Sprache besser sprechen können! Dies geschieht während einer speziellen Zeremonie, sobald die Kinder das entsprechende Alter erreicht haben. »Es ist sehr schmerzhaft«, berichtete Tumbee und zeigte mir seine Zahnlücken mit Stolz.
Nach einigen Stunden im Dorf fuhr ich dann weiter. Tumbee bot mir noch eine Übernachtung an. Heute bedauere ich sehr, nicht geblieben zu sein. Eine Himba-Dusche hätte mir sicherlich nicht geschadet und ich hätte bestimmt noch vieles mehr über das Leben im Dorf erfahren.
Der Besuch im Skeleton Park war spektakulär. Unendliche Weiten, gerade Strecken bis zum Horizont und großartige Landschaften, die man wahrscheinlich nur dort sehen kann. Es gibt zwei Versionen, woher der Park seinen Namen hat: entweder von den vielen Schiffswracks an der gleichnamigen Skeleton-Küste, oder von den Walknochen, die dort oft strandeten und die letzte Ruhestätte fanden. Etwa 40km breit und 500km lang wird er als „The world‘s largest ship cemetery“ bezeichnet. Dort herrscht ein raues Wetter: Dauernebel, stürmische Winde, unruhige Küstengewässer, hohe Wellen und die Wüste. Wer es ans Land schaffte, hatte nur eine kleine Überlebenschance: die meisten verdursteten im Anschluss.
Vor dem Eingangstor las ich das Gefahrenschild, Gefahren die meist von Wildtieren ausgehen. Das eigene Fahrzeug sollte nicht verlassen werden und Motorräder sind dort illegal. Niemand wollte mich jedoch stoppen. Es gab keine Fragen. Ich füllte das Formular aus, dass ich dann am Ausgang wieder abgeben sollte. Die Durchfahrt ist kostenlos, wenn man den Park am selben Tag verlässt. Nach ca. drei-vier Stunden Fahrt war ich wieder raus. Kein Löwe wollte mich fressen. Ich habe nicht mal eine tote Maus gesehen! Nichts! Die Fahrt war aber in einer ziemlich lebensunfreundlichen Umgebung. Schon ein Wunder, dass dort tatsächlich Elefanten, Löwen, Hyänen, Schakale, Kudus, Zebras und viele weitere Tierarten vorhanden sein sollten. Ich fuhr im starken Wind und teils im Nebel auf der Schotterpiste seelenruhig durch. Von Zeit zu Zeit kam mir ein Geländeauto entgegen.