Planänderung

Um so wenig wie möglich Grenzübergänge und somit weniger Bürokratie auf mich nehmen zu müssen, sowie den Zeitplan etwas aufzuholen, plante ich ursprünglich einen kürzeren Weg: von Mauretanien nach Mali durch Burkina Faso und schließlich nach Benin, wo ich ein paar Tage länger bleiben wollte. 

Nun ergab sie die Reise nach Burkina als „bad idea“. Es erreichten mich immer wieder Neuigkeiten, die mich nachdenklich machten. Burkina Faso scheint „not the place to be right now“ zu sein – schrieb mir Chloe von der FB-Gruppe „West Africa Travellers“. Die Mitglieder der Whatsapp-Gruppe „Africa by moto“ konnten mir auch nur einen Rat geben: Ich solle die UN-Mission in Bamako aufsuchen und dort nach einem sicheren Weg fragen. Auch das deutsche Außenministerium empfiehlt mit Vorsicht, nicht nach Burkina Faso zu reisen: 

In allen Grenzregionen ist eine hohe Zunahme von terroristischen und kriminellen Aktivitäten zu verzeichnen. Entsprechend wird generell auch davon abgeraten, auf dem Landweg nach Burkina Faso einzureisen. Des Weiteren raten wir dringend von Reisen nördlich der Linie Koupela-Ouagadougou-Toma sowie westlich der Linie Toma-Dédougou-Bobo Dioulasso-Banfora ab.

Mehrfach wurden auch westliche Ausländer Opfer von offensichtlich gezielten Entführungen, wie im Dezember 2018, im Januar 2019 und zuletzt im Mai 2019 im Pendjari-Nationalpark auf beninischer Seite im Grenzgebiet mit anschließender Verschleppung nach Burkina Faso.

Da mir die oben erwähnten Orte aus meiner Routenplanung bekannt vorkamen, entschied ich mich auf Burkina zu verzichten. Die Familie und meine Freundin, sie alle atmeten tief auf. Nun war die einzige Alternative zu dieser Route, von Mali nach Cote d‘Ivoire, Ghana, Togo und Benin zu fahren. Blöderweise hatte ich die Visa für Mali und Burkina bereits. Für die neue Strecke natürlich nicht. 

Eine kurze Recherche ergab, dass ein Honorarkonsul von Côte d‘Ivoire in Nouakchott residiert. Aber ein Honorarkonsul? Kann er was? Es ist eher ein Amt für repräsentative Zwecke – dachte ich. Es schadet aber nicht, mal anzuklopfen und zu fragen. So fuhren wir los, Hachim und ich, um dem Konsul einen Besuch abzustatten. Ich war froh, dass Hachim dabei war, zur Not könnte er dann übersetzen, wenn ich mit Englisch nicht weiter kommen sollte. Wir klopften an und eine massive Tür wurde uns geöffnet. Wir wurden ins Sekretariat gebeten, wo eine junge Sekretärin in einem schicken gelben Kleidchen saß und mit ihrem Handy spielte. Hachim erklärte kurz, was wir wollten. 

Die Sekretärin erhob kurz ihren Blick zu uns: 

»Ja, das ginge schon, nur der Konsul ist nicht da.« 

Danach widmete sie ihre volle Aufmerksamkeit wieder dem Smartphone und teilte uns mit: »Wir sollen ihn dann anrufen, um zu erfahren, wann er kommt.« – Ich hob die Augenbrauen hoch. 

Hachim war aber schon am Handy und im Begriff den Konsul tatsächlich direkt anzurufen. Die Nummer nahm er einfach von der Website des Konsulats. Als sich der Konsul meldete, übergab Hachim der Sekretärin das Smartphone und sagte zu ihr: 

»Er ist dran, klären Sie das.« Und Wunder geschehen: der Konsul werde bald eintreffen und sich um die Angelegenheit kümmern. 

Nach einer Stunde war es so weit. Es wurde uns mitgeteilt, dass der Konsul uns erwartet. Wir gingen rein und sahen einen älteren Herren hinter einem Berg an Unterlagen, Mappen, Dokumenten und Fotos am Schreibtisch sitzen. Neben dem Schreibtisch stand ein Gewehr – vermutlich nicht als Deko gedacht. »Ob das gut gehen wird?« – fragte ich mich noch.

Der Herr lächelte uns aber sehr freundlich an und lud uns ein, Platz zu nehmen. Hachim begann dann auf Französisch zu erklären, was wir wollen, wo ich herkomme und ob der Konsul mit mir in Englisch sprechen könne, weil ich leider kein Französisch spreche. 

»Wieso Englisch? Kann er kein Deutsch?« – warf der Konsul auf Englisch. Hachim und ich schauten uns kurz erstaunt an. 

Dann sagte ich auf Deutsch: »Doch, doch – das kann ich natürlich. Sprechen Sie Deutsch?

»Ja, ein bisschen schon« – antwortete der Konsul auf Deutsch, aber das klang schon verdächtig gut! 

»Woher kommen Sie?« – fragte mich der Konsul weiter. 

»Baden-Baden« – antwortete ich vorsichtig.

»Ich bin aus Hannover« – sagte der Konsul und ich machte große Augen! 

Dann fiel mir auf, dass bei ihm im Büro ein Hannover96-Emblem an der Wand hängte! Wow, wie klein die Welt doch ist! 

In seinem Büro hingen überall alte Fotos! Mal er mit dem ersten mauretanischen Präsidenten, mal mit dem ivorischen Präsidenten und noch mit anderen hohen Politikern, die allesamt ihre Karrieren sicherlich schon in den 60-70ern beendet hatten. 

Er erzählte viel über die alten Zeiten der Gründung afrikanischer Staaten, der Euphorie über die Erlangung der Unabhängigkeit durch die westafrikanischen Länder usw. 

Er suchte dann eine Weile lang in seinen Unterlagen. Diese kam uns schon sehr lange vor, aber wir warteten geduldig und weiterhin schweigend. Ich dachte: 

»Ok, er sucht bestimmt irgendwelche Antragsformulare für meinen Visumantrag. Ist ja auch kein Problem. Er ist svhon ein älterer Herr und braucht Zeit. Wahrscheinlich kommt nicht jeden Tag ein Europäer und stellt bei ihm einen solchen Antrag.« 

Dann – nach ca. 30-40 Minuten, vorsichtig geschätzt – fand er, was er suchte! Es waren nicht die Antragsformulare, nicht die Instruktion, wie man ein Visum ausstellt und auch nicht die Preisliste mit den Visumgebühren. Es waren seine alten Fotos aus Hannover! Ich glaube, just in diesem Moment hatte ich meinen Mund breit geöffnet. Ich weiß nicht mehr, was mich mehr erstaunte: dass er jetzt doch keine Unterlagen suchte oder die Tatsache, dass ich aus den Fotos erfuhr, dass der ivorische Honorarkonsul, Monsieur Tidiane Diagana, in der Bundesliga bei Hannover 96 spielte, und zwar in 1965! Ich sah ihn als jungen Mann in Gesellschaft von seinem damaligen Trainer und anderen Spielern. Mir verschlug es die Sprache! Er erzählte von seiner Ankunft in Deutschland und über seine spätere politische Karriere in Afrika. Er zeigte uns noch mehr Fotos von ihm zusammen mit den afrikanischen Politikern von damals. 

Wir verbrachten gute drei Stunden im Konsulat. Davon entfielen wahrscheinlich zwanzig Minuten für meinen Visumantrag. Das Visum stempelte mir Monsieur Diagana dann direkt und höchstpersönlich in meinen Reisepass rein. Die Visumgebühr musste ich trotzdem bezahlen. Ich hoffte insgeheim, dass mir die Gebühren erspart blieben – schließlich war ich ja ein guter Zuhörer und sicherlich auch ein interessanter Ansprechpartner! Am Ende war ich aber natürlich nicht enttäuscht, sie doch zahlen zu müssen. Die Begegnung war so überraschend und spannend, dass ich wahrscheinlich am Ende jede Gebühr entrichtet hätte, selbst für diese unerwartete Begegnung. 

Nachtrag am 13. Oktober 2019: In Burkina Faso krachte es mal wieder. Gestern sind bei einem Anschlag in der Hauptstadt 15 Menschen ums Leben gekommen. Dieses Land kommt nicht zur Ruhe… 

Kein Krimi

Die ersten Tage in Marokko

Am Abend des 12. September kam ich in Tetouan an und wollte in einer Privatpension übernachten, die ich über die App iOverlander entdeckt hatte. Das klappte leider nicht. Ich landete in irgendeiner Sackgasse und wurde umringt von 10-12 jährigen Jungs, die ich vom Fußballspiel abgelenkt hatte. Es war echt süß. Die Jungs haben gleich alles, was sie an Fremdsprachen je gelernt hatten, testen wollen: Hola, bonjour, hello, how are you – alles kam auf ein Mal. Leider konnten sie mir nicht sagen, wo die Pension ist, die ich gerade suchte. 

So fuhr ich noch durch eine weitere Straße, fand nichts und entschied mich für Plan B: Camping in Martil an der Mittelmeer-Küste ein paar Kilometer weiter. 

Das klappte dann einwandfrei. Ich kam an, ein älterer Herr hob die Schranke per Hand hoch und ich bekam meinen Platz zum Zelten für umgerechnet sechs Euro. Am nächsten Morgen ging ich noch in die Stadt, um mich kurz umzuschauen. Ich sah vor mir eine wirklich neue Welt. Die Stadt, Straßen, Geschäfte, Menschen in den Cafés – alles war für mich super neu und fremd. Etwas schüchtern lief ich noch paar hundert Meter und kehrte dann um. Das Minimalziel konnte ich jedoch erreichen: Wasser im Supermarkt zu kaufen. 

Das erste eigentliche Ziel war die Stadt Fez. Dort war ich mit Samir verabredet. Ich dachte mir, bevor ich in Fez herumgeistere und wie in Martil hilflos durch die Gegend fahre, lieber jemanden finden, der eine Couch bei sich zu Hause anbietet und noch dazu bereit ist, die eigene Stadt einem Fremden zu zeigen. Es war tatsächlich ein Volltreffer! Aber dazu kommen wir noch später. 

Zuerst durfte ich meine ersten Kilometer auf den marokkanischen Straßen sammeln. Die Strecke von Martil nach Fez betrug ca. 270 km, laut Googlemaps: fünf Stunden Fahrzeit. D.h. auf dem Motorrad müssten es ca. sechs werden. 

Am Ende sind es acht geworden. Die Strecke führte durch Berge und von allen Göttern verlassene Dörfer. Die Löcher in den Straßen waren teils so gewaltig, dass du da nur einmal reinfahren darfst. Danach bräuchtest du ein neues Moped. Unterwegs begegnest du immer wieder Kamikaze-Fahrern, die in Kurven überholen, dir den Weg abschneiden und dich mit der Hupe beschimpfen (oder begrüßen – schwer zu unterscheiden). Davon gibt es noch eine Steigerung: die Busfahrer, die sich an keine Geschwindigkeitslimits halten und sich auf der Straße benehmen, als ob sie mit jedem überholten Fahrzeug ein Bonus vom Arbeitgeber erhalten würden. Doch der Gipfel der fahrerischen Fertigkeiten stellen die LKW-Fahrer, die mit Heu mit bis zu der dreifachen Höhe des eigenen Fahrzeugs beladen fahren. Beim ersten LKW dieser Art fuhr ich mit eingeschalteter Kamera über 15 Minuten im Schneckentempo hinterher. Ich dachte – bei dem Wind und Zustand der Straßen wird er niemals weit kommen. Falsch gedacht. Er fuhr seelenruhig vor sich hin, bis ich aufgegeben habe und ihn überholte. Später überholte ich noch mehrere meterhoch beladene LKWs. Keiner kippte für mich und mein Video um. Es scheint doch zu funktionieren. Diese wahren Heutransport-Künstler kommen immer an. 

Eine weitere Besonderheit auf den marokkanischen Straßen: ungelogen, ca. alle 20 km kommt ein Polizeikontrollpunkt, meistens am Kreisverkehr! Du wirst natürlich von den anderen Fahrern vorgewarnt und kannst dann entspannt durchfahren. Ich musste zum Glück noch keine Bekanntschaften mit den Beamten machen. Wer weiß, was sie alles von einem Ausländer wollen. 

Man kann mit denen aber anscheinend auch verhandeln, wenn man die entsprechenden Argumente in der Hand hat. Am letzten Samstag fuhren wir, Samir, seine amerikanischen Arbeitskolleginnen (allesamt Englischlehrer an der amerikanischen Schule in Fez) und ich, aus der Stadt, um uns an den schönen Landschaften zu erfreuen und Samir‘s Eltern auf dem Lande zu besuchen. Am Steuer saß Alexandra. Im Auto waren noch Samir und Surya. Chiara und ich, auf dem Moped hinterher. Wie das so der Zufall will: die Polizei stoppte den Nissan von Alexandra. Ich fuhr dann weiter, um den Polizisten keinen Anlass zu geben, auch mich zu kontrollieren. Ich hielt dann an der Tankstelle 200m weiter. Es ergab sich, dass Alexandra etwas zu schnell fuhr und viel schlimmer: ihren Reisepass nicht dabei hatte. Chiara und ich beobachteten die Geschehnisse aus der sicheren Entfernung. Nach einer gefühlten Ewigkeit als sich nichts tat und der Polizist immer wieder zwischen seinem Auto und dem Nissan spazierte, entschied sich Chiara einzuschreiten. Sie ging hin und klärte die Sache innerhalb von Minuten. Die amerikanische Sprachschule in Fez gehört nämlich ihrer Mutter und sie versprach dem Polizisten kostenlosen Englischunterricht. Sie schmierte den Beamten mit Bildung! Er versicherte sich noch, dass auch seine Frau zum Studieren kommen darf und die Sache mit dem vergessenen Reisepass war vom Tisch. Ist irgendwie doch sympathisch. 

Es fehlt aber noch der Anfang meiner Geschichte. Am Freitag, den 13. September, kam ich – wie bereits erwähnt – zwei Stunden später als gewollt in Fez an. Auf mich wartete an der amerikanischen Schule Samir, mein Gastgeber und Guide für die nächsten Tage. Samir lernte ich über die Platform CouchSurfing kennen. Das Prinzip dort ist ziemlich einfach: Es gibt Menschen auf der ganzen Welt, die bei sich zu Hause eine Couch (oder gar ein Zimmer) für Reisende kostenlos anbieten. Was ist dann ihre Motivation? Zum einen möchten Sie Gäste empfangen, um mehr über die fremden Länder und deren Kulturen zu erfahren. Oder, sie waren selbst schon gereist, haben die Vorteile des CouchSurfings genutzt und möchten es auf diese Weise „zurückgeben“. Samir gehört zu der ersten Gruppe. Er hat schon vielen Reisenden seine Couch zur Verfügung gestellt. So lernte er auf diese Weise Menschen aus der ganzen Welt: Canada, USA, Australien, Deutschland und viele mehr. 

Bevor ich aber die Geschichte von Samir erzähle, möchte ich mich kurz mit einem potentiellen Szenario befassen, das natürlich nicht eintraf, aber sich in meinem Kopf durchaus andeutungsweise abspielte. Denn ich bin ein Anfänger beim CouchSurfing und Samir war erst mein zweiter Gastgeber überhaupt. Wer kann einem garantieren, dass die noble Idee des CouchSurfings nicht missbraucht werden könnte? Wer kann garantieren, dass ein allein stehender, immer noch attraktiver 50-jähriger Typ mit einer tief im Wald stehenden Villa – der zudem noch keine positiven Rezensionen auf der Plattform (wichtig!) vorweisen kann – keine bösen Absichten hat, wenn er 20-jährige Mädchen zu sich nach Hause einlädt? Ok, wer auf so etwas reinfällt, ist selbst schuld. Es muss aber nicht zwingend immer so offensichtlich kritisch ausschauen. Die Gefahren lauern oft dort, wo man sie nicht vermutet. 

Doch zurück zu meinem Szenario. Wie schaute es bei mir aus? 

Wie bereits kurz erwähnt: ich kam am Freitag, den 13. September, in Fez an. Wir trafen uns, Samir und ich, an der amerikanischen Schule. Ich hatte schon schlechtes Gewissen, weil ich mit zwei Stunden Verspätung ankam und Samir so lange auf mich warten musste. Es schien ihn aber nicht zu stören. Er war sofort sehr freundlich und richtig gut drauf. 

Wir wussten schon einiges voneinander. Samir hatte mich zuvor richtig intensiv ausgefragt: wo ich herkomme, was ich beruflich mache, wo meine Familie lebt, was ich alles in Marokko vorhabe, wie meine Reise bisher verlief, wo es dann später hingeht, usw. Ich fand das schon relativ viel nachgefragt, dachte aber: natürlich möchte er alles über mich wissen, schließlich nimmt er mich – eine völlig fremde Person – bei sich auf. So fuhren wir zu ihm nach Hause. Er auf seinem kleinen Roller und ich mit der großen Maschine mit ganz viel Gepäck drauf hinterher. Ich bat Samir nur etwas Rücksicht zu nehmen, dass ich an den etwas wilden Straßenverkehr in Fez nicht gewöhnt sei, und bestimmt seiner Fahrweise nicht folgen könne. Nach ca. einer halben Stunde trafen wir in einem etwas besonderen Stadtteil ein: Mehrfamilienhäuser, die schon ziemlich viele Jahre auf dem Buckel zu haben schienen, kaputte Straßen, viel Müll überall – alles ziemlich runtergekommen und arm. Natürlich hat mich das nicht gestört – ich versuche es hier nur objektiv darzustellen. Wir haben mein Motorrad bei einem Bekannten von Samir ein paar Blocks weiter abbestellt. Direkt vor seinem Haus wäre es nicht sicher. Zu viel Verantwortung – meinte Samir. 

Dann marschierten wir mit meinem ganzen Gepäck ca. 500 Meter zu seinem Appartement. Dort angekommen, wurde ich sehr nett empfangen. Samir zeigte mir seine ganze Wohnung, erklärte mir, wo mein Zimmer sei und wie das Bad funktionierte. Dann zeigte er mir seine Familienbilder und erzählte mir, wie nah er seinem Großvater stand und dass er sich auch um ein autistisches Kind kümmerte. Er sagte auch, sein Haus sei jetzt mein Haus und ich solle mich sehr wohl fühlen. 

Ich dachte nur: wow, was für ein großartiger Mensch! 

Relativ schnell sagte er aber zu mir, dass er eine neue Idee hätte und ob ich Interesse hätte, zu seinem Dorf, wo er aufwuchs, zu fahren, um dort in einer ruhigen und schönen Umgebung die Nacht zu verbringen. Klar – sagte ich, richtig froh, dass ich die Chance bekommen würde, eine authentische rurale Gegend kennenzulernen. So ließ ich mein ganzes Hab und Gut bei Samir zu Hause liegen und wir fuhren zu zweit auf meinem Motorrad aus der Stadt in die Berge. Es war schon dunkel als wir losfuhren. Nach etwa 30 Minuten Fahrt in der Dunkelheit, in einer ziemlich düsteren und verlassenen Gegend, fing ich dann an, mir Fragen zu stellen. Es wäre doch ein interessantes Szenario für einen Film, der für einen Touristen aus Europa ungünstig endet. Ich unterwegs mit einem Marokkaner, den ich gerade kennenlernte, mein ganzes Gepäck bei ihm zuhause, dessen Adresse ich nicht kannte (wir trafen uns ja an der amerikanischen Schule, wo er angeblich arbeitet), zu zweit in der Nacht in irgendeiner Pampa unterwegs zu seinem angeblichen Elternhaus. Dann erklärte mir Samir, dass seine Eltern nicht in dem Haus wohnen, wo wir hinfahren. Dort lebt lediglich sein älterer Bruder.

Wenn es dort noch weitere freundliche junge Männer gibt, die mich kennenlernen und mich mit Wein oder sonstigen traditionellen Getränken begrüßen wollen, dann bin ich dran – dachte ich noch. Keiner weiß wo ich bin, ich weiß nicht, wo ich hinfahre, mein Moped lässt sich bestimmt leicht verscherbeln. Für die Fotoausrüstung kriegt man bestimmt auch ein paar Dirhams. Meine Leiche würde man in den Bergen nie finden. Es wäre eine spannende Story für die europäische Presse. Und in Marokko würde man bestimmt ein Solidaritäts- und Trauerkonzert veranstalten, Mahnwachen würden vor der Botschaft abgehalten werden, wie für die skandinavischen Backpackerinnen, die im Atlasgebirge in der Nähe von Marrakesch geköpft wurden. So schnell werde ich mich aber nicht ergeben. Nur meine einzige Waffe hatte ich nicht dabei: mein Schweizer Taschenmesser lag jetzt in einer der Taschen in Samir‘s Wohnung.

Doch wie ging die Gruselgeschichte zu ende? 

Das kann man sich leicht vorstellen. Wir sind bei Samir im Dorf gut gelandet. Es war traumhaft! Ein traditionelles Haus mit viel Raum. Wir haben trotzdem unter dem freien Himmel im „Milliarden-Sterne Hotel“ geschlafen. Den guten Schlaf störte nur eine Sache: unzählige Hähne im Dorf fingen noch dick vor Sonnenaufgang mit ihrem Gesang an. Ein Drama! Kaum hörte einer mit seinem Konzert auf, startete schon der Nächste. Und da mussten mindestens so viele im Dorf sein wie Sterne am Firmament. Das ganze dauerte stundenlang! Irgendwann war es mit den Versuchen, doch noch einzuschlafen, vorbei. Die Aussicht am Morgen machte aber alles wieder gut. Und wie! Schöne bergige Landschaften mit einem See in der Ferne. Freundliche Hunde von Samir, neugierige aber schüchterne Esel, selbst sein Pitbull hat mich sehr herzlich empfangen und war super lustig drauf: er wollte nur spielen! Es ergab sich, dass die Eltern nur in einem anderen Haus etwa 200 Meter entfernt lebten. Zuerst kam der Vater, um mich zu begrüßen. Dann gingen wir zu der Mutter, die schon mit dem Frühstück wartete! Einfach herrlich! Ich habe beispiellose Freundlichkeit und Gastfreundschaft erlebt! Und ganz ehrlich – ich habe nichts anderes erwartet. Die hypothetische Grusel-Geschichte, die ich zuerst aufzeichnete, zeigt uns, wie wir ticken – gefüttert durch Sensationsgeschichten aus den Medien. Natürlich finden ab und zu Grausamkeiten statt, und zwar überall auf der Welt. Aber lasst uns doch nicht verrückt machen. Wir sollen Vorurteile ablegen und Menschen aus anderen Kulturkreisen eine wahre Chance geben. 

Bei Samir wollte ich eigentlich nur eine Nacht verbringen. Ich blieb vier. Ich habe einen neuen Freund gewonnen, einen lebensfrohen Menschen mit großem Herz, hilfsbereit, offen für Neues, unbekanntes und vor allem motiviert, viel Gutes in seinem Leben zu tun. Er erzählte mir seine Lebensgeschichte, mit vielen Ups and Downs, Enttäuschungen, dramatischen Unfällen, guten Taten, der Suche nach den Opportunitäten, Bildung, Liebe und Freundschaft. Er bat mich, dies alles nicht öffentlich zu wiedergeben. Vieles erzählte er mir im Vertrauen. Das respektiere ich voll und ganz. 

Schreck der Einreise

Endlich in Afrika

Die Einreise nach Marokko war eine Zitterpartie. Die letzte Nacht in Spanien vor Aufbruch nach Afrika verbrachte ich auf dem Campingplatz in der Nähe von Tarifa. Vor mir trafen andere Biker ein: Barry aus Kilkenny (Irland) und Alex aus Moskau (Russland). Beide sehr erfahrene Motorrad-Abenteurer. Barry ist schon mal auf einer KTM aus Australien nach Irland gefahren, Alex durchquerte ganz Europa und war gerade auf dem Weg zurück aus Marokko. Seine erste Frage war: 

»Hast Du eine Drohne dabei?« 

»Klar, habe ich« – antwortete ich ohne zu zögern.

»Weißt Du, dass Drohnen in Marokko verboten sind?« 

»Eeee, ja – aber…«  

»Kein „aber“ – die Zöllner haben mir meine abgenommen.«  

»Waaas?« – mein Herz ist mir in die Hose gerutscht. So eine Drohne kostet schon einen vierstelligen Betrag in Euro.

So, der Leser mag sich vorstellen, womit ich dann meinen Abend verbrachte. Mein Kopf dampfte  vor Anstrengung: wie kriege ich die Drohne durch die Kontrolle! Eins war klar: ich muss riskieren. Ich kann mir doch die wunderbaren afrikanischen Landschaften nicht entgehen lassen! Was würde ich den Menschen später erzählen, die mich beneidet haben, dass ich mit der Drohne in Afrika super Landschaften abfotografieren und in die Orte fliegen kann, die man sonst mit viel Schweiß und Mühe hochklettern müsste! Mit meiner Höhenangst noch dazu! Nein, ich konnte die Drohne nicht wieder nach Hause schicken. 

So habe ich einen verbrecherischen Plan ausgekaspert: ich wickelte die Drohne sorgfältig in mein Zelt ein, die Batterien wurden separat versteckt: eine in den Camping-Stuhl, die andere in die Matratze. Ich dachte nur: „Ok Arschlöcher, wenn ihr sie finden wollt, dann musst ihr euch schon anstrengen. Ich dachte mir auch schon einen genauen Ablauf aus: welche Tasche würde ich zuerst zeigen, wie lässig würde ich das Zelt auf den Boden werfen, wie würde ich mein ganzes Zeug auslegen – ohne zu vergessen, wie ich den ganzen Verkehr hinter mir durch meine Aktion blocken würde. Ich könnte gar mein Motorrad fallen lassen und ein tollpatschiges Opfer spielen. Das 400kg schwere Moped sollen sie mir dann natürlich noch helfen, hoch zu heben. Alleine hätte ich das Ding selbstverständlich niemals hochgekriegt (normalerweise schon). So bestens als Schmuggler vorbereitet, fuhr ich dann nach Algeciras zum Hafen. Ich dachte noch unterwegs: naja, vielleicht erwischt es einen anderen Biker, der dann auch etwas Verbotenes schmuggelt (Drogen, Alkohol, Zigaretten, die Bibel). 

In „freudiger“ Erwartung auf die Fähre

Ziemlich positiv eingestellt, dennoch mit ziemlich hohem Puls, kam ich am Terminal an. 

Nach zwei Stunden Wartezeit, in denen ich mich noch darüber wunderte, warum man mindestens 90 Minuten vor Abfahrt erscheinen soll, wenn die Fähre erst 30 Minuten vor Anfahrt beladen wird, ging es los. Wir fuhren in das Innere der Fähre mit dem literarischen Namen „Poeta López Anglada“. Das Schiff begrüßte uns noch mit einer riesigen schwarzen Abgaswolke, die mir dem Atem raubte. Benebelt dachte ich nur, wenn der Luís López Anglada wüsste, wie sein Schiff die Umwelt verpestet, würde er sich im Grab umdrehen. 

Nun aber die erste Enttäuschung: ich war der einzige Biker auf dem Weg nach Tanger. Wenn die Beamten heute unbedingt ein Motorrad durchfilzen wollen, haben sie nur mich. Mist! 

Ob das der Umwelt gut tut?

Doch erstmal kam eine Reihe von Passkontrollen: die Erste on Board: zwei wichtig aussehende Grenzbeamten in Zivil saßen in einem kleinen Raum und haben die Dokumente geprüft. Dahinter entstand innerhalb von wenigen Minuten eine lange Schlage. Bis ich dran war, war die Fahrt schon fast vorüber. Die Prozedur war aber unspektakulär: der erste Beamte befragte mich was ich beruflich mache, wo ich hin will usw. Dann haute er zwei Stempel rein. Der zweite Typ, der kurz davor einem Belgier sein Reisepass nicht zurückgab (keine Ahnung warum), erschien etwas strenger. Er kontrollierte nämlich die Nummern der Pässe in seinem Laptop. Dazu nutzte er sparsamerweise nur seinen rechten Zeigefinger. So dauerte die Prozedur etwas länger. Meinen Pass erhielt ich dann doch gleich zurück. Die nächste Kontrolle kam beim Verlassen des Schiffes. Es wurde kontrolliert, ob die erste Kontrolle stattfand. Danach ging es weiter. An einem Kreisverkehr im Hafen winkte mich jedoch ein anderer Beamter weiter. Die wichtigste und die eigentliche Kontrolle, die in der Nacht zuvor meinen Schlaf beeinflusste, kam dann nach einer ewig langen Fahrt durch den Hafen. Kaum habe ich mich gefreut, dass ich eigentlich schon längst raus aus der Gefahr sein sollte, habe ich den Posten mit der Aufschrift „Duane“ gesehen. Alles klar. Jetzt habt ihr mich auf dem Teller – dachte ich nur, weil ich da nur sehr wenige Fahrzeuge gesehen habe, die gerade gründlich kontrolliert wurden. Die Zöllner lassen sich Zeit – nicht gut. Ich sah vor mir einen Transporter, dessen Fahrer seine ganzen Innereien (des Transporters, nicht des Fahrers) neben dem Fahrzeug auslegte. Und es war eine ganze Menge! Der Fahrer des Transporters musste wahrscheinlich nach 20 Jahre Exil in Spanien mit seinem ganzen Hab und Gut in die Heimat zurückgekehrt sein. Unzählige Kisten, Koffer, Möbel und Säcke standen jetzt neben dem Auto. 

Jetzt war ich dran…

Ein junger Mann in Uniform kam mit ernster Mine und fragte nach den Fahrzeugpapieren und dem Reisepass. Er nahm die Dokumente entgegen und verschwand für 30 Minuten in seinem Büro. Ok, jetzt muss ich geduldig warten. Bloß keine nervösen Aktionen veranstalten. Also mal lässig am Motorrad gestützt ins Handy schauen – geht leider nicht so lange: noch kein Internet in Marokko. Ok, dann eben den Marokkaner anquatschen, der auch hier wartet. Schnell war mein Spanisch dann am Ende, da wir uns schon zuvor über irgendwelche Banalitäten ausgetauscht hatten. Der Beamte war noch nicht da… beobachtete mich aber bestimmt aufmerksam hinter den abgedunkelten und spiegelnden Fenstern seines Büros. Dabei unterhielt er sich bestimmt mit seinen Kollegen über mich und schaute grinsend auf die Uhr. 

Bloß keine Unruhe in den letzten Minuten zeigen. Meine Gedanken schwingen zu meiner Freundin und den netten Beschäftigungen, die wir normalerweise Sonntagmorgens nachgingen: uns unterhalten über die weltberühmten Briefmarkensammler und ihre Kollektionen… oder so ähnlich. 

Dabei musste ich bestimmt gegrinst haben. Glücklicherweise waren andere Reaktionen meines Körpers nicht zum Anschein gekommen. 

Endlich kam der Zöllner mit meinen Dokumenten. Übergab mir diese mit einem neuen Zettel, den ich dann bitte nicht verlieren sollte, bedankte sich für meine Geduld und wünschte mir bon voyage. Keine Frage nach der Drohne! 

Ich dankte ihm ebenfalls, stieg lässig aufs Motorrad, zog den Helm, die Handschuhe und die Sonnenbrille langsam an und fuhr davon. 500 Meter weiter, in dem Moment als ich ein lautes „Yeah!“ gedacht habe, sah ich den nächsten Kontrollpunkt vom Zoll. Mist! Der Typ hier hat bestimmt nur eine Aufgabe: die Motorradfahrer nach ihren Drohnen zu befragen. Ich hielt mit 180 Puls an. Es begrüßte mich jedoch ein lächelnder älterer Herr, der nur den Zollzettel sehen wollte, den ich vor gerade einer Minute erhalten hatte. Almanya? Ja – bestätigte ich. Das beste Land in Europa! – sagte er euphorisch, gab mir das Zolldokument zurück uns wünschte mir auf Deutsch „gute Fahrt.“ Ich liebe dieses Land – grinste ich noch und fuhr dann endlich nach Tetouan.