Off-road „Abenteuer“

Abkürzung, die über 4 Stunden dauerte…

Nachdem ich Fez verlassen hatte, verbrachte ich die Nächte auf Campingplätzen und die Tage unterwegs auf dem Mopedsitz. So verweilte ich zwei Nächte in der Nähe von Errachidia und fuhr dann weiter durch das mittlere Altasgebirge Richtung Westen. Ich kam am 19. September am wunderschönen, fast paradiesischen Camping Atlas an, ca. 3-4 km vor der Toudra-Schlucht, direkt hinter der Oasen-Stadt Tinghir. Ich entschied mich sofort mindestens zwei Nächte dort zu verbringen. 

Am nächsten Tag bekam ich einen hohen Besuch: Marcin und Dominika, ein Pärchen aus Polen, die ich dank der Vermittlung einer guten Fee – Barbara aus Benin (über die ich später noch eine Geschichte erzählen werde) kennenlernen durfte. Die beiden änderten etwas ihre Route, um mich zu treffen. Das Pärchen, das man auf Facebook unter „Grupa Wschodu“ (die Gruppe des Ostens) finden kann, war gerade am Endziel ihrer Afrika-Reise. Sie brachen im November 2018 nach Afrika auf und wählten ungefähr dieselbe Route auf dem afrikanischen Kontinent wie ich, bis auf die Richtung: sie starteten in Ägypten und umkreisten Afrika im Uhrzeigersinn. Sie bestritten die Reise in einem Geländewagen, den Marcin selbst umgebaut und für das afrikanische Abenteuer vorbereitet hatte. Es war ein Nissan Patrol, etwas älteres Semester, dennoch sehr imposant, vor Kraft protzend, als ob es für solche Abenteuer erschaffen wurde. So auch kein Wunder, dass für Marcin und Dominika kein Weg, egal wie steinig und schwierig er sein mochte, für unmöglich erschien.

Sie erzählten mir von ihren Abenteuern während der zehnmonatigen Reise. Es war nicht immer leicht und angenehm. Ihre Geschichte aus Kamerun schüchterte mich etwas ein: sie waren unterwegs Richtung Grenzübergang zu Nigeria, als sie von einem bewaffneten Rebellen angehalten wurden. Er befahl ihnen, zu seinem Lager zu fahren. Dort warteten auf sie weitere 20 Aufständische, die ebenso bis an die Zähne bewaffnet waren. Marcin erzählte, dass er während der Fahrt dem Rebellen noch seine volle mentale Unterstützung bot – um ihn noch, falls sich das als nötig ergeben würde, für sich umzustimmen. Die Polen haben ja schließlich auch immer für ihre Freiheit gekämpft und haben daher immer offenes Ohr und viele Sympathien für Freiheitskämpfer – versuchte er noch den Mann zu beeindrucken. Dieser saß die ganze Zeit mit der geladenen Pistole, die mit dem Lauf auf Dominika zielte. Sie erzählte: »Er saß mir fast auf dem Schoss! Ich habe die ganze Zeit nur gezittert.« Am Lager angekommen, war die Konsternation auf beiden Seiten groß. Das polnische Pärchen wollte nur schnell wieder abhauen. Die Rebellen wollten sie nicht so schnell gehen lassen. Man kann sich jedoch leicht vorstellen, was Dominika fühlte, als sie aus dem Auto stieg und ein Pfeifkonzert hörte. Sie habe sich schon halb in der Rolle eines Vergewaltigungsopfers gesehen. Zum Glück passierte am Ende nichts schlimmes. Der erste Rebelle, für den die beiden das Taxi gespielt hatten, ließ sie dann gehen. Sie stiegen ins Auto und fuhren davon, ohne nur ein Mal in den Rückspiegel geschaut zu haben.

Auf so ein afrikanisches Abenteuer verzichtet man schon gern…

Es gab noch weitere Abenteuer, über die ich hörte. Allesamt war die Reise von Marcin und Dominika jedoch großartig. Was sie alles erlebten, lässt sich von ihrem Blog erlesen. Eine spannende Lektüre für mich zurzeit… 

Nun wollten wir aber eine kleine Etappe gemeinsam fahren. Auf dem Plan stand natürlich die erste Schlucht: Toudra. Die andere, die Dades-Schlucht, sollte dann das zweite Ziel werden. Zur Auswahl stand: entweder der asphaltierten Straße folgen und ca. 200km fahren. Oder eine kleine Abkürzung nehmen und „nur“ 60 km off-road fahren. Für Marcin war die Wahl offensichtlich: wir fahren durch das Gelände. 

Der Anfang der Strecke ging ziemlich gut. Schnell änderte sich jedoch der einfache Schotterweg mit gelegentlichen Löchern in einen steiningen Höllenweg. Der Nissan fuhr seelenruhig durch den ausgetrockneten Bett eines Bergflusses. Gelegentlich hinterließ er eine Staub- oder pechschwarze Abgaswolke, die ich dann einatmen durfte. Der Weg war im Prinzip kein Weg. Es lagen überall riesengroße Steine, manche mit dem Ausmaß einer Wassermelone, die mich spöttisch anschauten und schweigend riefen: »na, fahr drüber, du Loser«.

Ich schwitzte literweise. Die gelegentlichen Hügel und Löchern machten es noch schwieriger für mein voll beladenes Moped. Und dann passierte es. Nicht aufgepasst, oder gar gezögert, ob ich mit Speed hochfahren oder doch die andere Spur nehmen sollte: ich blieb doch stehen, konnte das Gleichgewicht nicht halten und kippte zur Seite um. Zwei Mal. Beim zweiten Mal kostete mich das eine dicke Beule am Seitenkoffer. Naja, es lässt sich bestimmt irgendwann reparieren – tröstete ich mich an der Stelle, um nicht den Mut zur Weiterfahrt zu verlieren. 

Als ob es nicht schon genug schwierig gewesen wäre. Kaum kurz durchgeatmet vor der nächsten Hürde, kamen wie aus dem nichts ein paar Beduinen-Kinder, die uns irgendwelche Steine verkaufen wollten. Man kann sich leicht vorstellen, dass da ein einfaches „Nein, danke“ – egal in welcher Sprache – so viel nutzt, wie ein Schweizer Taschenmesser beim Angriff eines tollwütigen Löwen. Die Kinder brachten irgendwelche Urgesteine mit weiß der Henker welchen tollen Mustern darauf. Ich dachte nur: das kann doch nicht wahr sein! Die stehen genau dort, wo der einzige machbare Weg für mich durchführt. Als Dominika tatsächlich was abgekauft hatte, dachte ich: ok, jetzt sollen sie zufrieden sein und abhauen. Wie falsch! Ich war das nächste Opfer. Als Marcin losfuhr, dachte ich: ok, einfach Gas geben, Kopf senken und hinterher schnell durchfahren. Der Plan scheiterte, bevor ich überhaupt losfuhr. Die Kinder waren schon da und steckten mir ihre Steinchen fast ins Visier. Ich sah nur ein Muster einer versteinerten Muschel und dachte dabei: »oh, wie schön hat euer Vater diese in seiner Werkstatt hingekriegt.« 

Im Nachhinein finde ich, dass diese Situation schon etwas Komik besitzt und irgendwann mal auch verfilmt werden könnte. Ich – kämpfend mit dem steinigen Weg und der 400kg schweren und voll beladenen Maschine, versuchte eine gefährliche off-road-Situation zu meistern. Neben mir rannte ein Junge, der mir mit aller Gewalt seinen Stein verkaufen will. Und weil das noch zu wenig komisch war: aus dem nichts tauchte plötzlich ein Schäferhund auf und wollte mir die Reifen durchbeißen! Der blöde Köter lief noch dazu direkt vor mein Vorderrad! Will der Idiot überfahren werden? Ich fluchte laut auf Englisch, der Junge schreite ununterbrochen wegen seinem tollen Steinangebot und der Hund attackierte mein Moped, als ob er dadurch das Leben des Jungen retten würde. Irgendwann gab der Junge doch auf, 100 Meter weiter auch der Hund. Ich bin nicht gestürzt und überlebte dieses Abenteuer schweißgebadet. Sobald ich außer Gefahr war, hielt ich an, atmete tief durch und schwor mir feierlich, von nun an nur noch die marokkanischen Autobahnen zu nutzen. 

Diese „Abkürzung“ kostete uns über vier Stunden. Sie hat sich dennoch gelohnt. Ich kam mit blauem Auge davon (eine Beule am Koffer und kaputtem Visier am Helm). Die Erfahrung war aber viel Wert: ich werde sie bestimmt nicht so schnell wiederholen wollen. Marcin meinte, das sei doch nicht so schwierig gewesen und ich werde bestimmt noch schlimmeres in Afrika erleben. Auch ohne eine Chance, solche Wege weiträumig zu umfahren. Man darf gespannt bleiben…

Kein Krimi

Die ersten Tage in Marokko

Am Abend des 12. September kam ich in Tetouan an und wollte in einer Privatpension übernachten, die ich über die App iOverlander entdeckt hatte. Das klappte leider nicht. Ich landete in irgendeiner Sackgasse und wurde umringt von 10-12 jährigen Jungs, die ich vom Fußballspiel abgelenkt hatte. Es war echt süß. Die Jungs haben gleich alles, was sie an Fremdsprachen je gelernt hatten, testen wollen: Hola, bonjour, hello, how are you – alles kam auf ein Mal. Leider konnten sie mir nicht sagen, wo die Pension ist, die ich gerade suchte. 

So fuhr ich noch durch eine weitere Straße, fand nichts und entschied mich für Plan B: Camping in Martil an der Mittelmeer-Küste ein paar Kilometer weiter. 

Das klappte dann einwandfrei. Ich kam an, ein älterer Herr hob die Schranke per Hand hoch und ich bekam meinen Platz zum Zelten für umgerechnet sechs Euro. Am nächsten Morgen ging ich noch in die Stadt, um mich kurz umzuschauen. Ich sah vor mir eine wirklich neue Welt. Die Stadt, Straßen, Geschäfte, Menschen in den Cafés – alles war für mich super neu und fremd. Etwas schüchtern lief ich noch paar hundert Meter und kehrte dann um. Das Minimalziel konnte ich jedoch erreichen: Wasser im Supermarkt zu kaufen. 

Das erste eigentliche Ziel war die Stadt Fez. Dort war ich mit Samir verabredet. Ich dachte mir, bevor ich in Fez herumgeistere und wie in Martil hilflos durch die Gegend fahre, lieber jemanden finden, der eine Couch bei sich zu Hause anbietet und noch dazu bereit ist, die eigene Stadt einem Fremden zu zeigen. Es war tatsächlich ein Volltreffer! Aber dazu kommen wir noch später. 

Zuerst durfte ich meine ersten Kilometer auf den marokkanischen Straßen sammeln. Die Strecke von Martil nach Fez betrug ca. 270 km, laut Googlemaps: fünf Stunden Fahrzeit. D.h. auf dem Motorrad müssten es ca. sechs werden. 

Am Ende sind es acht geworden. Die Strecke führte durch Berge und von allen Göttern verlassene Dörfer. Die Löcher in den Straßen waren teils so gewaltig, dass du da nur einmal reinfahren darfst. Danach bräuchtest du ein neues Moped. Unterwegs begegnest du immer wieder Kamikaze-Fahrern, die in Kurven überholen, dir den Weg abschneiden und dich mit der Hupe beschimpfen (oder begrüßen – schwer zu unterscheiden). Davon gibt es noch eine Steigerung: die Busfahrer, die sich an keine Geschwindigkeitslimits halten und sich auf der Straße benehmen, als ob sie mit jedem überholten Fahrzeug ein Bonus vom Arbeitgeber erhalten würden. Doch der Gipfel der fahrerischen Fertigkeiten stellen die LKW-Fahrer, die mit Heu mit bis zu der dreifachen Höhe des eigenen Fahrzeugs beladen fahren. Beim ersten LKW dieser Art fuhr ich mit eingeschalteter Kamera über 15 Minuten im Schneckentempo hinterher. Ich dachte – bei dem Wind und Zustand der Straßen wird er niemals weit kommen. Falsch gedacht. Er fuhr seelenruhig vor sich hin, bis ich aufgegeben habe und ihn überholte. Später überholte ich noch mehrere meterhoch beladene LKWs. Keiner kippte für mich und mein Video um. Es scheint doch zu funktionieren. Diese wahren Heutransport-Künstler kommen immer an. 

Eine weitere Besonderheit auf den marokkanischen Straßen: ungelogen, ca. alle 20 km kommt ein Polizeikontrollpunkt, meistens am Kreisverkehr! Du wirst natürlich von den anderen Fahrern vorgewarnt und kannst dann entspannt durchfahren. Ich musste zum Glück noch keine Bekanntschaften mit den Beamten machen. Wer weiß, was sie alles von einem Ausländer wollen. 

Man kann mit denen aber anscheinend auch verhandeln, wenn man die entsprechenden Argumente in der Hand hat. Am letzten Samstag fuhren wir, Samir, seine amerikanischen Arbeitskolleginnen (allesamt Englischlehrer an der amerikanischen Schule in Fez) und ich, aus der Stadt, um uns an den schönen Landschaften zu erfreuen und Samir‘s Eltern auf dem Lande zu besuchen. Am Steuer saß Alexandra. Im Auto waren noch Samir und Surya. Chiara und ich, auf dem Moped hinterher. Wie das so der Zufall will: die Polizei stoppte den Nissan von Alexandra. Ich fuhr dann weiter, um den Polizisten keinen Anlass zu geben, auch mich zu kontrollieren. Ich hielt dann an der Tankstelle 200m weiter. Es ergab sich, dass Alexandra etwas zu schnell fuhr und viel schlimmer: ihren Reisepass nicht dabei hatte. Chiara und ich beobachteten die Geschehnisse aus der sicheren Entfernung. Nach einer gefühlten Ewigkeit als sich nichts tat und der Polizist immer wieder zwischen seinem Auto und dem Nissan spazierte, entschied sich Chiara einzuschreiten. Sie ging hin und klärte die Sache innerhalb von Minuten. Die amerikanische Sprachschule in Fez gehört nämlich ihrer Mutter und sie versprach dem Polizisten kostenlosen Englischunterricht. Sie schmierte den Beamten mit Bildung! Er versicherte sich noch, dass auch seine Frau zum Studieren kommen darf und die Sache mit dem vergessenen Reisepass war vom Tisch. Ist irgendwie doch sympathisch. 

Es fehlt aber noch der Anfang meiner Geschichte. Am Freitag, den 13. September, kam ich – wie bereits erwähnt – zwei Stunden später als gewollt in Fez an. Auf mich wartete an der amerikanischen Schule Samir, mein Gastgeber und Guide für die nächsten Tage. Samir lernte ich über die Platform CouchSurfing kennen. Das Prinzip dort ist ziemlich einfach: Es gibt Menschen auf der ganzen Welt, die bei sich zu Hause eine Couch (oder gar ein Zimmer) für Reisende kostenlos anbieten. Was ist dann ihre Motivation? Zum einen möchten Sie Gäste empfangen, um mehr über die fremden Länder und deren Kulturen zu erfahren. Oder, sie waren selbst schon gereist, haben die Vorteile des CouchSurfings genutzt und möchten es auf diese Weise „zurückgeben“. Samir gehört zu der ersten Gruppe. Er hat schon vielen Reisenden seine Couch zur Verfügung gestellt. So lernte er auf diese Weise Menschen aus der ganzen Welt: Canada, USA, Australien, Deutschland und viele mehr. 

Bevor ich aber die Geschichte von Samir erzähle, möchte ich mich kurz mit einem potentiellen Szenario befassen, das natürlich nicht eintraf, aber sich in meinem Kopf durchaus andeutungsweise abspielte. Denn ich bin ein Anfänger beim CouchSurfing und Samir war erst mein zweiter Gastgeber überhaupt. Wer kann einem garantieren, dass die noble Idee des CouchSurfings nicht missbraucht werden könnte? Wer kann garantieren, dass ein allein stehender, immer noch attraktiver 50-jähriger Typ mit einer tief im Wald stehenden Villa – der zudem noch keine positiven Rezensionen auf der Plattform (wichtig!) vorweisen kann – keine bösen Absichten hat, wenn er 20-jährige Mädchen zu sich nach Hause einlädt? Ok, wer auf so etwas reinfällt, ist selbst schuld. Es muss aber nicht zwingend immer so offensichtlich kritisch ausschauen. Die Gefahren lauern oft dort, wo man sie nicht vermutet. 

Doch zurück zu meinem Szenario. Wie schaute es bei mir aus? 

Wie bereits kurz erwähnt: ich kam am Freitag, den 13. September, in Fez an. Wir trafen uns, Samir und ich, an der amerikanischen Schule. Ich hatte schon schlechtes Gewissen, weil ich mit zwei Stunden Verspätung ankam und Samir so lange auf mich warten musste. Es schien ihn aber nicht zu stören. Er war sofort sehr freundlich und richtig gut drauf. 

Wir wussten schon einiges voneinander. Samir hatte mich zuvor richtig intensiv ausgefragt: wo ich herkomme, was ich beruflich mache, wo meine Familie lebt, was ich alles in Marokko vorhabe, wie meine Reise bisher verlief, wo es dann später hingeht, usw. Ich fand das schon relativ viel nachgefragt, dachte aber: natürlich möchte er alles über mich wissen, schließlich nimmt er mich – eine völlig fremde Person – bei sich auf. So fuhren wir zu ihm nach Hause. Er auf seinem kleinen Roller und ich mit der großen Maschine mit ganz viel Gepäck drauf hinterher. Ich bat Samir nur etwas Rücksicht zu nehmen, dass ich an den etwas wilden Straßenverkehr in Fez nicht gewöhnt sei, und bestimmt seiner Fahrweise nicht folgen könne. Nach ca. einer halben Stunde trafen wir in einem etwas besonderen Stadtteil ein: Mehrfamilienhäuser, die schon ziemlich viele Jahre auf dem Buckel zu haben schienen, kaputte Straßen, viel Müll überall – alles ziemlich runtergekommen und arm. Natürlich hat mich das nicht gestört – ich versuche es hier nur objektiv darzustellen. Wir haben mein Motorrad bei einem Bekannten von Samir ein paar Blocks weiter abbestellt. Direkt vor seinem Haus wäre es nicht sicher. Zu viel Verantwortung – meinte Samir. 

Dann marschierten wir mit meinem ganzen Gepäck ca. 500 Meter zu seinem Appartement. Dort angekommen, wurde ich sehr nett empfangen. Samir zeigte mir seine ganze Wohnung, erklärte mir, wo mein Zimmer sei und wie das Bad funktionierte. Dann zeigte er mir seine Familienbilder und erzählte mir, wie nah er seinem Großvater stand und dass er sich auch um ein autistisches Kind kümmerte. Er sagte auch, sein Haus sei jetzt mein Haus und ich solle mich sehr wohl fühlen. 

Ich dachte nur: wow, was für ein großartiger Mensch! 

Relativ schnell sagte er aber zu mir, dass er eine neue Idee hätte und ob ich Interesse hätte, zu seinem Dorf, wo er aufwuchs, zu fahren, um dort in einer ruhigen und schönen Umgebung die Nacht zu verbringen. Klar – sagte ich, richtig froh, dass ich die Chance bekommen würde, eine authentische rurale Gegend kennenzulernen. So ließ ich mein ganzes Hab und Gut bei Samir zu Hause liegen und wir fuhren zu zweit auf meinem Motorrad aus der Stadt in die Berge. Es war schon dunkel als wir losfuhren. Nach etwa 30 Minuten Fahrt in der Dunkelheit, in einer ziemlich düsteren und verlassenen Gegend, fing ich dann an, mir Fragen zu stellen. Es wäre doch ein interessantes Szenario für einen Film, der für einen Touristen aus Europa ungünstig endet. Ich unterwegs mit einem Marokkaner, den ich gerade kennenlernte, mein ganzes Gepäck bei ihm zuhause, dessen Adresse ich nicht kannte (wir trafen uns ja an der amerikanischen Schule, wo er angeblich arbeitet), zu zweit in der Nacht in irgendeiner Pampa unterwegs zu seinem angeblichen Elternhaus. Dann erklärte mir Samir, dass seine Eltern nicht in dem Haus wohnen, wo wir hinfahren. Dort lebt lediglich sein älterer Bruder.

Wenn es dort noch weitere freundliche junge Männer gibt, die mich kennenlernen und mich mit Wein oder sonstigen traditionellen Getränken begrüßen wollen, dann bin ich dran – dachte ich noch. Keiner weiß wo ich bin, ich weiß nicht, wo ich hinfahre, mein Moped lässt sich bestimmt leicht verscherbeln. Für die Fotoausrüstung kriegt man bestimmt auch ein paar Dirhams. Meine Leiche würde man in den Bergen nie finden. Es wäre eine spannende Story für die europäische Presse. Und in Marokko würde man bestimmt ein Solidaritäts- und Trauerkonzert veranstalten, Mahnwachen würden vor der Botschaft abgehalten werden, wie für die skandinavischen Backpackerinnen, die im Atlasgebirge in der Nähe von Marrakesch geköpft wurden. So schnell werde ich mich aber nicht ergeben. Nur meine einzige Waffe hatte ich nicht dabei: mein Schweizer Taschenmesser lag jetzt in einer der Taschen in Samir‘s Wohnung.

Doch wie ging die Gruselgeschichte zu ende? 

Das kann man sich leicht vorstellen. Wir sind bei Samir im Dorf gut gelandet. Es war traumhaft! Ein traditionelles Haus mit viel Raum. Wir haben trotzdem unter dem freien Himmel im „Milliarden-Sterne Hotel“ geschlafen. Den guten Schlaf störte nur eine Sache: unzählige Hähne im Dorf fingen noch dick vor Sonnenaufgang mit ihrem Gesang an. Ein Drama! Kaum hörte einer mit seinem Konzert auf, startete schon der Nächste. Und da mussten mindestens so viele im Dorf sein wie Sterne am Firmament. Das ganze dauerte stundenlang! Irgendwann war es mit den Versuchen, doch noch einzuschlafen, vorbei. Die Aussicht am Morgen machte aber alles wieder gut. Und wie! Schöne bergige Landschaften mit einem See in der Ferne. Freundliche Hunde von Samir, neugierige aber schüchterne Esel, selbst sein Pitbull hat mich sehr herzlich empfangen und war super lustig drauf: er wollte nur spielen! Es ergab sich, dass die Eltern nur in einem anderen Haus etwa 200 Meter entfernt lebten. Zuerst kam der Vater, um mich zu begrüßen. Dann gingen wir zu der Mutter, die schon mit dem Frühstück wartete! Einfach herrlich! Ich habe beispiellose Freundlichkeit und Gastfreundschaft erlebt! Und ganz ehrlich – ich habe nichts anderes erwartet. Die hypothetische Grusel-Geschichte, die ich zuerst aufzeichnete, zeigt uns, wie wir ticken – gefüttert durch Sensationsgeschichten aus den Medien. Natürlich finden ab und zu Grausamkeiten statt, und zwar überall auf der Welt. Aber lasst uns doch nicht verrückt machen. Wir sollen Vorurteile ablegen und Menschen aus anderen Kulturkreisen eine wahre Chance geben. 

Bei Samir wollte ich eigentlich nur eine Nacht verbringen. Ich blieb vier. Ich habe einen neuen Freund gewonnen, einen lebensfrohen Menschen mit großem Herz, hilfsbereit, offen für Neues, unbekanntes und vor allem motiviert, viel Gutes in seinem Leben zu tun. Er erzählte mir seine Lebensgeschichte, mit vielen Ups and Downs, Enttäuschungen, dramatischen Unfällen, guten Taten, der Suche nach den Opportunitäten, Bildung, Liebe und Freundschaft. Er bat mich, dies alles nicht öffentlich zu wiedergeben. Vieles erzählte er mir im Vertrauen. Das respektiere ich voll und ganz. 

Schreck der Einreise

Endlich in Afrika

Die Einreise nach Marokko war eine Zitterpartie. Die letzte Nacht in Spanien vor Aufbruch nach Afrika verbrachte ich auf dem Campingplatz in der Nähe von Tarifa. Vor mir trafen andere Biker ein: Barry aus Kilkenny (Irland) und Alex aus Moskau (Russland). Beide sehr erfahrene Motorrad-Abenteurer. Barry ist schon mal auf einer KTM aus Australien nach Irland gefahren, Alex durchquerte ganz Europa und war gerade auf dem Weg zurück aus Marokko. Seine erste Frage war: 

»Hast Du eine Drohne dabei?« 

»Klar, habe ich« – antwortete ich ohne zu zögern.

»Weißt Du, dass Drohnen in Marokko verboten sind?« 

»Eeee, ja – aber…«  

»Kein „aber“ – die Zöllner haben mir meine abgenommen.«  

»Waaas?« – mein Herz ist mir in die Hose gerutscht. So eine Drohne kostet schon einen vierstelligen Betrag in Euro.

So, der Leser mag sich vorstellen, womit ich dann meinen Abend verbrachte. Mein Kopf dampfte  vor Anstrengung: wie kriege ich die Drohne durch die Kontrolle! Eins war klar: ich muss riskieren. Ich kann mir doch die wunderbaren afrikanischen Landschaften nicht entgehen lassen! Was würde ich den Menschen später erzählen, die mich beneidet haben, dass ich mit der Drohne in Afrika super Landschaften abfotografieren und in die Orte fliegen kann, die man sonst mit viel Schweiß und Mühe hochklettern müsste! Mit meiner Höhenangst noch dazu! Nein, ich konnte die Drohne nicht wieder nach Hause schicken. 

So habe ich einen verbrecherischen Plan ausgekaspert: ich wickelte die Drohne sorgfältig in mein Zelt ein, die Batterien wurden separat versteckt: eine in den Camping-Stuhl, die andere in die Matratze. Ich dachte nur: „Ok Arschlöcher, wenn ihr sie finden wollt, dann musst ihr euch schon anstrengen. Ich dachte mir auch schon einen genauen Ablauf aus: welche Tasche würde ich zuerst zeigen, wie lässig würde ich das Zelt auf den Boden werfen, wie würde ich mein ganzes Zeug auslegen – ohne zu vergessen, wie ich den ganzen Verkehr hinter mir durch meine Aktion blocken würde. Ich könnte gar mein Motorrad fallen lassen und ein tollpatschiges Opfer spielen. Das 400kg schwere Moped sollen sie mir dann natürlich noch helfen, hoch zu heben. Alleine hätte ich das Ding selbstverständlich niemals hochgekriegt (normalerweise schon). So bestens als Schmuggler vorbereitet, fuhr ich dann nach Algeciras zum Hafen. Ich dachte noch unterwegs: naja, vielleicht erwischt es einen anderen Biker, der dann auch etwas Verbotenes schmuggelt (Drogen, Alkohol, Zigaretten, die Bibel). 

In „freudiger“ Erwartung auf die Fähre

Ziemlich positiv eingestellt, dennoch mit ziemlich hohem Puls, kam ich am Terminal an. 

Nach zwei Stunden Wartezeit, in denen ich mich noch darüber wunderte, warum man mindestens 90 Minuten vor Abfahrt erscheinen soll, wenn die Fähre erst 30 Minuten vor Anfahrt beladen wird, ging es los. Wir fuhren in das Innere der Fähre mit dem literarischen Namen „Poeta López Anglada“. Das Schiff begrüßte uns noch mit einer riesigen schwarzen Abgaswolke, die mir dem Atem raubte. Benebelt dachte ich nur, wenn der Luís López Anglada wüsste, wie sein Schiff die Umwelt verpestet, würde er sich im Grab umdrehen. 

Nun aber die erste Enttäuschung: ich war der einzige Biker auf dem Weg nach Tanger. Wenn die Beamten heute unbedingt ein Motorrad durchfilzen wollen, haben sie nur mich. Mist! 

Ob das der Umwelt gut tut?

Doch erstmal kam eine Reihe von Passkontrollen: die Erste on Board: zwei wichtig aussehende Grenzbeamten in Zivil saßen in einem kleinen Raum und haben die Dokumente geprüft. Dahinter entstand innerhalb von wenigen Minuten eine lange Schlage. Bis ich dran war, war die Fahrt schon fast vorüber. Die Prozedur war aber unspektakulär: der erste Beamte befragte mich was ich beruflich mache, wo ich hin will usw. Dann haute er zwei Stempel rein. Der zweite Typ, der kurz davor einem Belgier sein Reisepass nicht zurückgab (keine Ahnung warum), erschien etwas strenger. Er kontrollierte nämlich die Nummern der Pässe in seinem Laptop. Dazu nutzte er sparsamerweise nur seinen rechten Zeigefinger. So dauerte die Prozedur etwas länger. Meinen Pass erhielt ich dann doch gleich zurück. Die nächste Kontrolle kam beim Verlassen des Schiffes. Es wurde kontrolliert, ob die erste Kontrolle stattfand. Danach ging es weiter. An einem Kreisverkehr im Hafen winkte mich jedoch ein anderer Beamter weiter. Die wichtigste und die eigentliche Kontrolle, die in der Nacht zuvor meinen Schlaf beeinflusste, kam dann nach einer ewig langen Fahrt durch den Hafen. Kaum habe ich mich gefreut, dass ich eigentlich schon längst raus aus der Gefahr sein sollte, habe ich den Posten mit der Aufschrift „Duane“ gesehen. Alles klar. Jetzt habt ihr mich auf dem Teller – dachte ich nur, weil ich da nur sehr wenige Fahrzeuge gesehen habe, die gerade gründlich kontrolliert wurden. Die Zöllner lassen sich Zeit – nicht gut. Ich sah vor mir einen Transporter, dessen Fahrer seine ganzen Innereien (des Transporters, nicht des Fahrers) neben dem Fahrzeug auslegte. Und es war eine ganze Menge! Der Fahrer des Transporters musste wahrscheinlich nach 20 Jahre Exil in Spanien mit seinem ganzen Hab und Gut in die Heimat zurückgekehrt sein. Unzählige Kisten, Koffer, Möbel und Säcke standen jetzt neben dem Auto. 

Jetzt war ich dran…

Ein junger Mann in Uniform kam mit ernster Mine und fragte nach den Fahrzeugpapieren und dem Reisepass. Er nahm die Dokumente entgegen und verschwand für 30 Minuten in seinem Büro. Ok, jetzt muss ich geduldig warten. Bloß keine nervösen Aktionen veranstalten. Also mal lässig am Motorrad gestützt ins Handy schauen – geht leider nicht so lange: noch kein Internet in Marokko. Ok, dann eben den Marokkaner anquatschen, der auch hier wartet. Schnell war mein Spanisch dann am Ende, da wir uns schon zuvor über irgendwelche Banalitäten ausgetauscht hatten. Der Beamte war noch nicht da… beobachtete mich aber bestimmt aufmerksam hinter den abgedunkelten und spiegelnden Fenstern seines Büros. Dabei unterhielt er sich bestimmt mit seinen Kollegen über mich und schaute grinsend auf die Uhr. 

Bloß keine Unruhe in den letzten Minuten zeigen. Meine Gedanken schwingen zu meiner Freundin und den netten Beschäftigungen, die wir normalerweise Sonntagmorgens nachgingen: uns unterhalten über die weltberühmten Briefmarkensammler und ihre Kollektionen… oder so ähnlich. 

Dabei musste ich bestimmt gegrinst haben. Glücklicherweise waren andere Reaktionen meines Körpers nicht zum Anschein gekommen. 

Endlich kam der Zöllner mit meinen Dokumenten. Übergab mir diese mit einem neuen Zettel, den ich dann bitte nicht verlieren sollte, bedankte sich für meine Geduld und wünschte mir bon voyage. Keine Frage nach der Drohne! 

Ich dankte ihm ebenfalls, stieg lässig aufs Motorrad, zog den Helm, die Handschuhe und die Sonnenbrille langsam an und fuhr davon. 500 Meter weiter, in dem Moment als ich ein lautes „Yeah!“ gedacht habe, sah ich den nächsten Kontrollpunkt vom Zoll. Mist! Der Typ hier hat bestimmt nur eine Aufgabe: die Motorradfahrer nach ihren Drohnen zu befragen. Ich hielt mit 180 Puls an. Es begrüßte mich jedoch ein lächelnder älterer Herr, der nur den Zollzettel sehen wollte, den ich vor gerade einer Minute erhalten hatte. Almanya? Ja – bestätigte ich. Das beste Land in Europa! – sagte er euphorisch, gab mir das Zolldokument zurück uns wünschte mir auf Deutsch „gute Fahrt.“ Ich liebe dieses Land – grinste ich noch und fuhr dann endlich nach Tetouan. 

Balkan Tour zu zweit

6173km, 17 Länder in 20 Tagen

Unsere Route
Unsere Route

Unsere Balkan-Tour war nicht nur kilometer-intensiv. Sie war vor allem reich an wunderbaren Erfahrungen, unerwarteten Begegnungen mit Menschen und Natur. Wir haben eindrucksvolle Momente erlebt, haben geschwitzt (nicht nur temperaturbedingt), sind immer wieder naß geworden, haben in naßen Klamotten bei 10° im Gebirge stundenlang gefroren, um später einer erstaunlichen Gastfreundschaft zu begegnen und Orte zu sehen, die allen Vorurteilen mit voller Kraft widersprechen.

Wir, Saskia und ich, zwei Motorrad-Neulinge, sind auf unsere erste große Motorrad-Reise in den frühen Nachmittagsstunden des 1. Juli in Baden-Baden aufgebrochen. Geschuldet dem mehrfachen Be- und wieder Entladen des Gepäcks haben wir unseren Plan, so früh wie möglich aufzubrechen, um einige Stunden verfehlt. Dennoch wollten wir noch am selben Tag Österreich erreichen. Geschafft haben wir bis zum Chiemsee und durften schon gleich am ersten Abend üben: das Zelt im Regen aufbauen. Wie sich später zeigen sollte: nicht zum letzten Mal. Wie so oft im Urlaub: während in der Heimat die Sonne strahlt und die Temperaturen belohnen die Heimattreuen, schifft´s aus allen Rohren in den Urlaubsorten. Es ist besonders frustrierend, wenn du in den Süden fährst, wo per definitionem heiß und trocken sein müsste. Nun sollten wir aber zuerst durch die Alpen-Republik. Da wir von vorne geplant haben, so wenig wie möglich die Autobahnen zu nehmen, war die Wahl klar: wir sind auf einem Motorrad unterwegs und sollen zwingend die Großglockner-Hochalpenstraße erleben. Ob das aber mit einem über 400kg schwerem Moped zu zweit gut geht? – haben wir uns noch gefragt. Später, als wir in Montenegro die Kotor-Serpentine am Lovćen-Berg schweißgebadet bewältigt hatten, lachten wir über die „tödlichen“ Kehren der Glocknerstraße.

An der Großglockner Hochalpenstraße

Später in Italien, nach einem kurzen Stop in Triest, führen wir weiter nach Slowenien. Uns war es vom Anfang an deutlich, dass wir bei dem Tempo und Routenplan keine Möglichkeit haben werden, uns mit den besuchten Länder intensiv zu befassen und alle wichtigen Sehenswürdigkeiten abzuklappern. Wir wollten die Reise vor allem auf dem Mopedsitz erleben: Kilometer und Eindrücke beim Fahren sammeln, viele lokale und abgelegene Wege befahren, sowie in jedem Land ein bis zwei interessante, nicht unbedingt touristische, Orte besuchen. So sind wir in Slowenien an der Höhlenburg Predjama gelandet und haben die berühmte Pferdezucht der Lipizzaner besucht. In Kroatien waren wir in Zadar und Dubrovnik. Das Land hätte sich aber mehr als gelohnt, wenn man nur entlang der Adriatischen Küstenstraße D8 fahren würde: atemberaubende Landschaften und traumhafte Kurven. Es stört auch nicht (so sehr), wenn man bei über 40° fährt und die heiße Luft über dem Asphalt vor starker Hitze flimmert.

Ein kleiner Abstecher nach Herzegovina brachte uns interessante Eindrücke aus Mostar und den Kravice-Wasserfällen. Beide Orte sind ziemlich touristisch, dennoch absolut sehenswert. In Montenegro sind wir zum bereits erwähnten Berg Lovćen (1749m) hochgefahren. Die Serpentinen-Auffahrt durch die sehr engen Strassen und Kehren verlangt so manche Schweißperle, insbesondere wenn einem plötzlich ein großer Reisebus entgegen kommt. Man wird aber mit einem großartigen Blick auf die türkisblaue Kotor-Bucht und das malerische Orjen-Gebirge belohnt!

In Montenegro, in der Küstenstadt Bar, haben wir auch eine etwas außergewöhnliche Begegnung erlebt: kaum am Straßenrand geparkt, wurden wir gleich von einer älteren Dame auf Deutsch angesprochen, die im Café nebenan saß und ihre Cola schlürfte. Ob wir Hilfe brauchen. In der Tat mussten wir etwas hilflos, oder mindestens seltsam ausgesehen haben: so stand ein verängstigtes, zierliches Mädchen in voller Motorradmontur, mit Helm in der Hand, neben einem voll bepackten Riesenmotorrad mit deutschen Kennzeichen und wartete auf den Kerl. Und der Kerl lief von einem Kiosk zum anderen Touristenladen und suchte nach Postkarten.

Letztendlich ergatterte ich eine bescheidene Ansichtskarte aus Bar. Bei den Briefmarken scheiterte ich auf der ganzen Linie. Nun fragte die montenegrische Dame in einwandfreiem Deutsch, ob sie uns behilflich sein könnte. Als sie unser Anliegen erfuhr, schickte sie sofort einen Kellner mit mir auf die Postamt-Suche. Das Café gehörte nämlich ihr selbst und der junge Kellner, der ebenfalls Deutsch sprach, sprang mir ohne zu grübeln auf den Soziussitz. So fuhren wir durch den Stadtteil, um die Briefmarke zu finden. Dank der Ortskenntnis des Kellners und seiner Übersetzungskünsten, fanden wir bald die Poststelle und ich konnte meine Briefmarke kriegen. Ich nahm gleich zwei, damit sich die Fahrt besser lohnen sollte. Ein paar Minuten später waren wir wieder zurück und ich, glücklich mit den zwei Briefmarken in der Tasche, konnte mich den Damen beim Cola-Schlürfen anschließen. Saskia erzählte mittlerweile Dragona (so hieß die Dame vermutlich) von unserer Reise und den weiteren Plänen, auch davon, dass wir nach Albanien fahren wollen. Davon riet uns Dragona mit Nachdruck ab! Sie stellte uns ein Bild des europäischen „Mordor“ vor: kaputte und gefährliche Straßen, kriminelle Banden, die auf europäische Motorrad-Touristen an jeder Ecke lauern und ausgehungerte Bevölkerung, die von einem alles klaut, was nicht mit Ketten befestigt sei. Trolle und Wehrwölfe hat sie nicht erwähnt… Auf die Frage, ob sie schon selbst das Nachbarland Albanien besuchte, verneinte sie: sie sei doch nicht „lebensmüde“. Für uns war klar: wir müssen hin und uns selbst überzeugen!

Und wir haben es nicht bereut! Wir wollten durch die Nordalbanischen Alpen nach Kosovo und haben uns schon auf etwas unbequeme Durchquerung von steinigen Schotterstraßen eingestellt. Aber nichts davon! Wir fanden eine exzellente, frisch asphaltierte Straße (SH20) und atemberaubende Landschaften vor! Anscheinend wissen selbst die Albaner nichts davon: unterwegs sind uns nur hand-voll andere Fahrzeuge entgegen gekommen. Lediglich die Fahrt durch die nordalbanische Stadt Shkodra schien eine – verkehrstechnisch gesehen – größere Herausforderung zu sein: man kommt nicht voran, wenn man „europäisch“ fährt: ständig wirst du von allen Seiten von den anderen Verkehrsteilnehmern überholt, Passanten laufen quer durch die Straßen, es scheint nur eine Regel zu gelten: wer bremst, der verliert.

Nach Albanien sind wir nach Pristina, Kosovo, gefahren: mit einem kleinen und ungeplanten Abstecher nach Serbien. Einmal im Regen nicht rechtzeitig abgebogen und zack – schon bist du im anderen Land. Zum Glück haben wir bald einen offenen Grenzübergang zwischen Serbien und Kosovo gefunden: zurzeit leider keine Selbstverständlichkeit. Und Pristina war eine der größten Überraschungen der Reise: eine moderne, europäische Stadt, nicht touristisch aber ausgesprochen gastfreundlich und angenehm! Insbesondere für den Geldbeutel: die Lokalwährung heißt Euro und man zahlt ein Viertel davon, was man zu Hause für die gleiche Speise im Restaurant ausgeben müsste.

Über die Preise haben wir uns auch in Nordmazedonien nicht beschweren müssen. Gestrandet sind wir am lokalen Touristen-Lieblingsort Struga am Ohridsee. Wo wird denn sonst in Europa für eine Camping-Übernachtung zu zweit (samt Motorrad und Zelt), Abendessen und Frühstück 18 Euro verlangt?

Später ging es nach Griechenland, Richtung Kavala. Die Region Makedonien im Norden Griechenlands empfing uns mit wüstenartigen und bergigen Landschaften. So soll Südeuropa aussehen! – haben wir gedacht und eine Foto-Pause angelegt. Die Gegend fühlte sich großartig an und ließ uns die Zeit vergessen. Die Konsequenz davon war: wir konnten unseren Campingplatz an der Küste nicht mehr erreichen und mussten uns eine neue Bleibe für die Nacht suchen sowie zum ersten Mal den Notfallplan rausholen: die bookingcom-App. Wir wollten einfach nur etwas preisgünstiges finden, warm duschen und am nächsten Morgen schnell wieder abfahren. Nix da! Es war ein wahres Abenteuer! Doch müssten wir den Ort zuerst finden! Und wie langweilig wäre das Leben eines BMW GS-Fahrers ohne sein BMW-Navigationsgerät! Mittlerweile glauben wir, dass dies alles mit Absicht programmiert wurde. Das Navi schickt Dich immer wieder auf Straßen, die es entweder nicht gibt, noch nicht gibt oder schon lange nicht mehr gibt, bzw. so steinig und löchrig sind, dass sie selbst für Bergsteiger mit dem Prädikat „schwierig“ verzeichnet werden sollten! Ich bin mir sicher, dass sich die Programmierer abends beim Bier treffen, gegenseitig Anekdoten erzählen und sich dabei kaputt lachen, wie sie den armen und nichts ahnenden Moped-Fahrern „offroad-feeling“ verpasst haben. Auch wir sind im Acker gelandet und haben auf einen griechischen Bauer gestoßen, der zuerst mit offenen Mund und großen Augen dann mit freundlich-skeptischem Lächeln uns gefragt hat, ob wir Hilfe brauchen. Stunden später haben wir die restlichen 30 km tatsächlich noch geschafft und das Hotel erreicht. Der junge Hotelbesitzer Stomatis war sehr freundlich und hat uns gefragt, ob wir denn seine E-Mail mit der Wegbeschreibung bekommen hätten. Wir lachten laut.

Archontiko Agonari
Archontiko Agonari

Dafür war das Hotel herrlich! Fast mittendrin im Wald auf einer Höhe von über 800m an einem Hang gelegen, bot auch die Terrasse eine traumhafte Aussicht. Darüber hinaus lernten wir auch, was griechische Gastfreundschaft bedeutet. Stomatis wollte uns die Strapazen der Anfahrt vergessen machen und fragte, ob wir nun die makedonische Spezialität Tsipouro kennen und probieren möchten. Spätestens als Stomatis sich zu uns an den Tisch setzte uns eine Runde aufs Haus anbot, hätten unsere Alarmglocken laut klingen müssen. Später haben wir recherchiert, dass Tsipouro eine hochprozentige (bis 45%) Spirituose ist! Zwei Karaffen davon haben gereicht, um unsere Bewegungssensoren stark zu beeinflussen. Vermutlich hätten wir bei der dritten Flasche angefangen, fließend Griechisch zu sprechen.

Die zweite Nacht in Griechenland haben wir am Thrakischen Meer verbracht. Dank „Connection“ aus Baden-Baden dürften wir eine Nacht im Apartment direkt am Strand verbringen! Dimitra, die Mutter von unserem Freund Saki, besitzt einige Apartmenthäuser am Strand und bot uns eine Wohnung für die Nacht an. Die Ortschaft heißt Nea Kabali und ist ein wahrer Geheimtipp. Direkt am Meer gegenüber der Insel Thasos gelegen, 15 Fahrminuten vom Kavala-Airport entfernt: das Dorf hat richtig Potential zum wahren Urlaubsparadies zu werden. Dies wurde vor wenigen Jahren im Ort erkannt, und es wird seitdem in den Ausbau und in die Infrastruktur fleißig investiert.

Bei Dimitra fühlten wir uns wie zu Hause! Eine tüchtige Geschäftsfrau aber mit einem Riesenherz! Sie empfing uns mit leckeren griechischen Spezialitäten und erzählte uns über die Region, über Griechenland, und dass sie 2015 während der großen Flüchtlingswelle mehrere Flüchtlingsfamilien in ihre Häuser aufgenommen (insgesamt 25 Personen) und über mehrere Monate verpflegt hat! Was für eine Frau! In unseren Augen – eine wahre Heldin! Denn man stelle sich vor, nicht jedem in dem Dorf hat dies gefallen.

Nun aber nach ca. zwei Wochen war die Zeit reif Richtung Heimat zu fahren: durch Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Slowakei und Tschechien. In Bulgarien hat uns der Regen fast durch das ganze Land begleitet, so haben wir nur unser Minimumziel erreicht: die Durchquerung des Balkan-Gebirge im Norden des Landes. In Rumänien hatten wir etwas mehr Wetterglück: wir nahmen uns Zeit, fuhren immer wieder „durch die Dörfer“ auf lokalen Straßen. So haben wir enorme Kontraste zwischen Land und Stadt gesehen: einerseits Touristen-Magneten wie Brasov, Bran oder Sibiu, andererseits von allen Göttern verlassene Dörfer, marode Straßen, Pferdekutschen und verwunderte Blicke der Einheimischen. Es war wie eine Zeitreise. Wir sprangen innerhalb von wenigen Kilometern vom 19. ins 21. Jahrhundert.

Das größte Highlight für die Motorradfahrer in Rumänien bleiben jedoch die Karpaten und die Nationalstraße DN67C, die Transalpina, eine sehr beliebte und touristisch bedeutsame Straße, die die sog. „Transsilvanischen Alpen“ durchquert und eine Höhe von 2132 m erreicht.

Anschließend sind wird in Ungarn angekommen und haben uns zwei Ziele vorgenommen: die (angeblich) älteste Stadt in Ungarn Eger und den Nationalpark Bükki. Die Stadt Eger war hübsch aber nicht wirklich spektakulär. Dafür aber die Strecke nach Miskolc ist einfach ein Traum: über 50 Kilometer kurvenreiche Strecke durch einen mysteriösen Wald… und mit erstaunlich wenig Verkehr! Die Weiterfahrt führte uns schließlich zur letzten Etappe der Reise: in die Slowakei, zur Hohen und Niederen Tatra, sowie durch Tschechien.

Wir kamen nach 20 Tagen erschöpft aber glücklich zurück nach Baden-Baden. Es war ein großartiges Abenteuer, voller überraschender Momente und unerwarteter Begegnungen. Wir haben im herzen Europas außergewöhnliche und unbekannte Orte entdeckt, uns ein eigenes Bild von den uns bis dato fremden Ländern gemacht.

Das Reisen auf dem Motorrad macht solche Erlebnisse noch direkter und intensiver. Es gibt keine schützende Blech-Box wie ein Auto, in die man sich zurückziehen und von der Außenwelt absperren kann. Du nimmst die Gegend, die Temperaturen, das Wetter direkt auf. Du schwitzt in der Hitze oder frierst im Regen, aber umso mehr genießt du die Momente, die das Motorradfahren so schön machen: den Fahrtwind, die Schräglage in den kurvenreichen Straßen, die Beschleunigung, Kraft der Maschine und die wahre Freude am Fahren. Du spürst die Reise auf der eigenen Haut, die diese spektakulär und unvergeßlich macht.

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